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10/10
Lieblingsfilm
Das aktuellste Werk des US-amerikanischen Regisseurs Sean Baker, mit dem Titel “Anora”, war der große Abräumer der Oscar-Verleihung 2024.
In ganzen sechs Kategorien war die Mischung aus Drama und Komödie nominiert. In fünf Disziplinen ging “Anora” als Sieger aus der Veranstaltung.
Was der ungewöhnliche Film zu bieten hat, haben wir uns genauer angeschaut.
Genre: Dramedy, Erotik, Romanze, Liebeskomödie
Originaltitel: Anora
Produktionsland: USA
Produktionsfirma: Universal Pictures | FilmNation Entertainment, Cre Film
Regie: Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker
Produktion: Sean Baker, Alex Coco, Samantha Quan
Musik: Matthew Hearon-Smith
Länge: ca. 139 Minuten
Altersfreigabe: FSK 16
Veröffentlichung: 31. Oktober 2024 (Kinostart DE)
“Anora” - Viel Wirbel - um was eigentlich?
“Anora” hat ganz schön Staub aufgewirbelt. Bei der Oscarverleihung im Jahr 2024 räumte Sean Bakers Film unglaubliche fünf Oscars ab. In den Kategorien bester Film, beste Regie, bestes Originaldrehbuch, beste Hauptdarstellerin und bester Schnitt konnte “Anora” die heißbegehrte Trophäe für sich gewinnen.[1]
Spätestens damit schürte die amerikanische Produktion automatisch hohe Erwartungen. Was soll da schon schiefgehen - wenn man als geneigter Zuschauer, bock auf einen guten Film hat?
Doch so einfach ist es dann doch nicht. Schon lange fallen wir nicht mehr auf euphorische Lobpreisungen herein, insbesondere, wenn diese durch die Oscars befeuert wurden. Zu oft gab es Enttäuschungen. Zu oft wurden Oscarfilme hochgelobt, nur um sich letztendlich als möchtegern-tiefgründige, pseudokünstlerische und gähnend-langweilige Projekte zu entpuppen.
Regisseur Sean Baker mit vier “Anora” Oscars. Rechts Hauptdarstellerin Mickey Madison mit ihrem Oscar als beste Hauptdarstellerin.
Unscheinbar
Abgesehen von seinem Oscar-Erfolg sowie zahlreichen Lobpreisungen und anderen Awards, wirkt “Anora” eigentlich sehr unscheinbar.
Selbst der Titel gibt keinen Hinweis darauf, was den Zuschauer erwarten könnte. Es handelt sich schlicht um den Vornamen der Protagonistin Anora (Mickey Madison). Auch das rosafarben-romantisch belichtete Cover, gibt nur einen groben Eindruck, um was für eine Art von Film es sich handeln könnte.
Kurzum: Wir konnten uns also rein gar nichts unter Sean Bakers achtem Spielfilm, mit dem unaufdringlichen Titel, vorstellen.[2] Und wurden dadurch - glücklicherweise - umso mehr überrascht!
Diesen Eindruck unterstreicht “Anora” sogar noch, wenn man schließlich in ihn einsteigt. Er zeigt sich regelrecht geheimnisvoll.
Handlung - Sex, Drugs and Money!
In “Anora” folgen wir einer (durchaus kompetent wirkenden) Sexarbeiterin bei der Durchführung ihres Nachtgeschäfts in einem New Yorker Erotik-Club. Ballernde Beats, Alkohol, Drogen, viel nackte Haut, wohlhabende Männer. Ein reines (realistisches) Klischee.
Ein paar Infohäppchen haben wir mittlerweile also bekommen. Doch immer noch, haben wir keinen blassen Schimmer, was uns hier letztendlich erwarten würde. Worauf läuft das alles hinaus? Was entwickelt sich hier? “Anora” verrät nie zu viel. Und man will mehr wissen. Das Drama, mit immer stärker werdender komödiantischer Note, erzeugt in diesen ersten Momenten, relativ schnell, eine starke Spannung.
Befürchtungen das Thema könnte sich um eine selbstbestimme Prostituierte drehen, welche dem Patriarchat und “bösen Geschlecht” im Alleingang den Kampf ansagen und die Welt im “Mary Sue-Stil” revolutionieren will, erweisen sich glücklicherweise als unbegründet. Das wäre auch zu langweilig.
Feurige Dialoge - “Runglish” at it´s best
Stattdessen findet Romantik einzug. Doch nicht nur das: Feurig-aufgepeitschte Dialoge, ein Gemisch aus russisch und englisch, von unbeholfenen Charakteren, mit denen man trotzdem irgendwie sympathisiert, kreieren eine Art von Humor, den vermutlich nicht jeder teilen oder verstehen wird.
Schließlich mündet alles in ein lustiges Chaos. Doch “Anora” driftet nie ins albern-lächerliche ab. Dafür wirken die Bilder, das Tempo und der stimmungsvolle Ton - aus produktionsqualitativer Sicht - einfach zu hochwertig. Dieses Kunststück muss man erst einmal meistern.
Selbst in seiner puren Eskalation, ehe der Film zum finalen Schlag ausholt, schafft es “Anora” immer, nicht über das Ziel der perfekten Symbiose aus Liebesdrama und Komödie hinaus zu schiessen.
Stilistische Mittel
Im Endeffekt ist es faszinierend mit welch einfachen Mitteln Regisseur Sean Baker “Anora” auch mithilfe seines Kameramanns Drew Daniels in Szene gesetzt hat. Mit Daniels arbeitete Baker übrigens bereits in seinem vorherigen Film “Red Rocket” (2021) zusammen.[3]
Es sollte eine “klare Kinoästhetik der 70er-Jahre und entsprechend alter Erotikfilme” erreicht werden. Ein “verschwommener und verwaschener Look” war das Ziel, wie die deutsche Wikipedia verrät.[4]
Dieser Look, kombiniert mit purer Schauspielleistung - insbesondere von Hauptdarstellerin Mickey Madison sowie dem russischen Nebendarsteller Juri Borissow (Igor) - sowie ein hervorragendes Tempo, ist das simple Rezept, welches “Anora” so unglaublich gut macht.
Fazit
Gefühls-Cocktail
“Anora” ist ein kurzweiliger Ausflug der seinesgleichen sucht. Während das Drama-Genre üblicherweise zur Langatmigkeit neigt, besticht der Film durch keine einzige Länge. Und das trotz einer Laufzeit von sage und schreibe 139 Minuten. Stattdessen fühlt er sich an wie ein positiv-fiebriger Traum über 90 Minuten.
“Anora” erzeugt durch seine stilistischen Elemente und die durchdachte Kameraarbeit von Drew Daniels außerdem eine überraschende Strahlkraft, die in der modernen Filmlandschaft ihresgleichen sucht. Für raue Romantiker ist er ein echter Genuss!
Die Premiere von “Anora” fand am 21. Mai 2024 bei den 77. Filmfestivals von Cannes statt. Das Publikum soll anschließend nicht weniger als zehn Minuten (!) applaudiert haben.[5] Aus unserer Perspektive zurecht! Sean Bakers Dramedy - ist - mit einfachsten Werkzeugen hergestelltes - Filmgold!
Letztendlich lässt der Regisseur im Finale dann noch eine Szene vom Stapel, die nur so aufgeladen ist, mit emotionaler Dichte.
Es ist ein Film-Moment der sich wie ein - im Nachtclub zu Boden fallendes Glas “Gefühls-Cocktail” entlädt - und damit alle Emotionen befreit, die sich im Laufe von “Anora” (und im Charakter Anora) angestaut haben. Und so ein ikonisch-atmosphärisches Bild bewirkt, dass es das Zeug zum vielfach referenzierten Kult hat!
Spoilerfreies Bild:
“Erwartungshaltung-Warnung”
Doch eine Warnung sei an dieser Stelle ausgesprochen, um die Erwartungen an ein “volles Bonbon-Glas” direkt zu zerstören. In der Rezeption scheint “Anora” bei eher community-basierten Wertungsplattformen nicht so euphorisch wegzukommen, wie unter Kritikern. Die Plattform “TV Time” listet den Film immerhin mit 20% 3-Sterne Wertungen, während 33% der Nutzer die höchste Wertung von 5-Sternen vergeben haben.
Die Google-Rezensionen zeichnen hier jedoch ein noch klareres Bild. Die Enttäuschungen (bei möglicherweise zu hoher oder nicht erfüllter Erwartungen) schlagen sich in einem Schnitt von nur 60% nieder. Nur 2,1 von 5 Sternen konnte der Film hier für sich gewinnen. Besonders viele 1-Sterne Ratings, lassen vermuten, dass viele Nutzer ihrem Ärger auf diese Weise Luft machen wollten.
Was haltet Ihr von Sean Bakers unkoventioneller Dramedy? Teilt Eure Gedanken zu “Anora” mit uns in der Kommentarsektion. Wir würden uns freuen. Und Oligarchen sowie Sexarbeiter sicher auch!